Deutschland und die Europaeische Union aus Sicht
eines Japaners
( Beobachtungen nach 20 Jahren Berichterstattung
aus Deutschland)
Toru Kumagai
Akademie fuer politische Bildung in Tutzing, 15.
Oktober 2011
1
Einleitung
Meine sehr geehrte Damen
und Herren,
ich moechte mich herzlich bedanken, dass Sie mir eine Gelegenheit gegeben
haben, hier einen Vortrag zu halten. Es ist eine grosse Ehre fuer mich.
Ich moechte mich
Ihnen kurz vorstellen. Ich bin in Tokio geboren und habe in Japan
Volkswirtschaftswissenschaften studiert.
Ich habe 8 Jahre
beim japanischen oeffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK gearbeitet. Als
Fernsehreporter habe ich nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland,
Polen, der damaligen Sowjetunion, in den USA und Nahost recherchiert.
Seit 21 Jahren
wohne ich in Muenchen und schreibe Artikel als freiberuflicher Journalist fur verschiedene
japanische Medien. Ich habe bisher 11 Buecher uueber Deutschland in Japan veroeffentlicht.
Ich moechte Ihnen heute von meinen Beobachtungen ueber Deutschland
und die Europaische Union erzaehlen.
2.
Aenderungen
nach der Wiedervereinigung
Als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fiel, war ich als
Auslandskorrespondent von NHK in Washington DC stationiert. Der japanische
Sender NHK hat mich nach Berlin geschickt. Kurz nach der Landung in Tegel fuhr
ich sofort zum Potsdamer Platz. Ein Teil der Mauer war abgerissen, und die
Ostberliner kamen zu Fuss oder in Trabis nach Westberlin.
Das war eine besonders beeindruckende Szene fuer mich,
weil ich schon 1980 als Student Berlin besucht hatte.
Ich habe mich sehr gefreut, dass die unmenschliche Mauer
gefallen war. Ich war auch beeindruckt, dass Deutschland innerhalb von weniger
als einem Jahr die Wiedervereinigung vollzogen und die volle Souvaerenitat
zurueckgewonnen hat.
Besonders fand ich es bemerkenswert, dass sich dieser Paradigmenwechsel
ohne Blutvergiessen vollzogen hat. Ein Paradigmenwechsel ist haeufig von
menschlichen Tragoedien oder Katastrophen begleitet. Die deutsche Revolution
ist ein seltenes Beispiel, dass ein Paradigmenwechsel von Glueck und Freude
gekennzeichnet wurde.
Ich war damals ueberzeugt, dass sich Europa gruendlich aendern
wird. Das war zum Teil der Grund, warum ich 1990 nach achtjaehriger Taetigkeit den
Sender NHK verliess und als freiberuflicher Journalist nach Deutschland kam. Ich
wollte vor Ort langfristig die Veraenderungen in Deutschland und Europa
beobachten und darueber schreiben.
Zunaechst bin ich sehr viel in den neuen Bundeslaendern
gereist und habe viele Leute interviewt. Kurz nach der Wiedervereinigung hatten
die neuen Bundeslaender noch die Atmosphaere eines sozialistischen Staates, wovon
heute nicht mehr viel zu sehen ist.
Ich habe fast jedes Jahr in Berlin recherchiert und
absichtlich im Ostteil der Stadt gewohnt, um die Stimmung zu spueren. Ich habe
immer bei einer Rentnerin in Friedrichshain gewohnt. Als ich 1991 zum ersten
Mal in der Wohnung war, waren die Tuerklinke des Wohnzimmers und der Wasserhahn
aus Kunststoff. Alle Elektrogeraete waren Produkt der DDR. Die Fenster, der
Briefkasten und die Sprechanlage waren im desolaten Zustand.
Ich war beeindruckt zu sehen, wie schnell ihre Wohnung
mit Zuschuss vom Staat von Jahr zu Jahr renoviert wurde. Die Tuerklinke des
Wohnzimmers und die Fenster wurden mit westdeutschen Produkten ausgetauscht.
Fur mich hat die Aenderung der Wohnung der Rentnerin die Verbesserung des
materiellen Zustands in den neuen Bundeslaendern symbolisiert.
Als ich 1991 in Brandenburg recherchiert habe, waren dort
noch viele russische Soldaten stationiert. In vielen Staedten waren sowjetische
Panzer als Denkmaeler fur den Grossen Vaterlaendischen Krieg gestellt.
Ich war wirklich froh, dass die russischen Truppen von
Deutschland abgezogen sind. Einige Westdeutsche haben sich beklagt, dass die Wiedervereinigung
viel Geld kostet. Die bluehende Landschaft, die der damalige Bundeskanzler Kohl
vorhergesehen hatte, ist noch nicht in den neuen Bundeslaendern angekommen.
Herr Kohl hat zugegeben, dass seine Einschaetzung zu
optimistisch war. Die neuen Bundeslaender
sind immer noch auf Finanztransfer angewiesen. Es ist immer noch nicht
abzusehen, wann der Solidaritaetszuschlag abgeschafft wird. Viele junge Leute
verlassen immer noch die neuen Bundeslaender, um einen Job im Westen zu finden.
Ich finde es trotz hoher Kosten richtig, dass Deutschland
damals das schmale Zeitfenster ausgenutzt hat, um rasch die Wiedervereinigung
zu erreichen. Das war ein grosses Gluck, dass Gorbatschow der Staatschef der
Sowjetunion war.
Herr Kohl hat die einmalige Chance erkannt und diese
historische Gelegenheit beim Schopf gepackt. Was kurz danach in Moskau geschah
und in welches politische Chaos die ehemaligen sowjetischen Laender gestuerzt
sind, zeigen, dass das Zeitfenster fuer die Wiedervereinigung wirklich schmal
war.
In den 90er Jahren habe ich oft erlebt, dass die Verstaendigung
zwischen den alten und den neuen Bundeslaendern noch keinen grossen Fortschritt
gemacht hatte. Die Mauer im Kopf war noch vorhanden. Insbesondere unter den
Menschen ueber 50 Jahre alt spuerte ich starke Vorurteile.
Da ich weder Ostdeutscher noch Westdeutscher bin, konnte
ich die ehrlichen, offenen Meinungen von den beiden Seiten ueber die Anderen
hoeren. Es ist fuer mich erstaunlich, dass es immer noch Westdeutsche gibt, die
starke Vorurteile gegen Ostdeutsche haben.
Aber ich bin froh zu sehen, dass junge Deutsche weniger
Vorurteile haben. Es ist erfreulich, dass Deutschland ohne Mauer fuer sie eine
Selbstverstaendlichkeit ist. Uebrigens war ich erstaunt, als ich vor kurzem von
einem jungen Deutschen aus Thueringen erfuhr, dass er nicht wusste, wer Markus
Wolf war. Ich spuerte, dass die DDR fuer die junge Generation aus den neuen
Bundeslaendern schnell in der Mottenkiste der Vergangenheit verschwindet.
3.
Aufarbeitung
der Geschichte
Die Auseinandersetzung
der Deutschen mit der NS-Vergangenheit ist eins der wichtigsten Themen fuer
mich. Ich beschaeftige mich damit seit mehr als 20 Jahren. Ich habe ein einstuendiges
Fernsehprogramm zu diesem Thema fuer NHK gedreht und ein Buch in Japan veroeffentlicht.
Zu diesem Thema habe ich mit zahlreichen Opfern und ihren
Familienmitgliedern in Israel, Polen, Ukraine und Weissrussland gesprochen.
Man kann den Holocaust und die Graeueltaten der
japanischen Armee waehrend des Zweiten Weltkrieges nicht gleichsetzen. Diese
zwei Ereignisse sind einfach nicht vergleichbar. Trotzdem finde ich sinnvoll zu wissen, wie die Deutschen mit
diesem Thema umgehen.
Ich finde es richtig, dass sich die Deutschen immer noch
mit ihrer Vergangenheit kritisch auseinandersetzen. Ohne diese Bemuehungen zur
Aufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg haetten die Deutschen nicht so schnell das
Vertrauen von Nachbarlaendern zurueck gewinnen konnen.
Ich finde es positiv, dass in Deutschland zu diesem Thema
offen diskutiert wird. In der Hinsicht finde ich Deutschland liberaler als
Japan. Bei uns wird viel weniger ueber das japanische Verbrechen waehrend des
Zweiten Weltkrieges diskutiert. Wenn man zu laut darueber spricht, wird man als
Nestbeschmutzer kritisiert.
Ich spuere manchmal die Selbstzensur der japanischen
Medien. Manche auslaendische Filme oder Buecher, die sich mit Graeueltaten der
japanischen Soldaten befassen, werden in Japan nicht veroeffentlicht, weil
Verlage oder Filmagenten Angst vor der Reaktion in der Gesellschaft haben. Ich
habe manchmal den Eindruck, dass sich mein Heimatland keinen offenen Dialog mehr
zu diesem Thema wuenscht.
Ich bedaure, dass wir uns nicht so intensiv mit unserer
Vergangenheit wie die Deutschen auseinandergesetzt haben. Die geopolitische Situation
in Asien ist heute mehr von Spannung als in Europa gekennzeichnet.
Ich war vor einigen Jahren entsetzt zu erfahren, was ein
junger japanischer Kommentator gesagt hat. Er war lange arbeitslos und gehoerte
der sozialen Unterschicht an. Er sagte, dass er sich einen Krieg wuenscht, um
die verkrustete, etablierte Sozial- und Wirtschaftsstruktur Japans aufzubrechen.
Es sei die einzige Moeglichkeit fuer viele junge armen,
um sich von der Unterschicht zu befreien. Solch eine beunruhigende Aussage ist
meiner Meinung nach zum Teil auf die Unkenntnis von der juengsten Geschichte
zurueckzufuehren.
Fast jedes Land hat ein dunkles Kapitel in ihrer
Geschichte. Wie man damit umgeht, muss jedes Land selbst entscheiden. Fur mich
ist es auf jeden Fall eine wichtiges Kriterium zu messen, wie reif die
Demokratie und die Diskussionskultur in dem Land sind und inwieweit die
Gesellschaft aufgeklaert ist.
4.
Deutschland wird normal
Im Zusammenhang von Diskussionskultur hat mich die
Debatte zum Buch ?Deutschland schafft sich abg von Thilo Sarazzin sehr
interessiert. Ich finde es besonders interessant, dass dieses Buch mehr als 1,2
Millionen Mal verkauft wurde. Es ist das erste politische Buch in Deutschland,
das diese hohe Auflage erzielte und monatelang auf der Bestsellerliste stand.
Die Bundeskanzlerin, der Vorstand der SPD und der
Vorstand der Bundesbank haben sich negativ zu diesem Buch geaeussert. Dagegen
erreichten die Zeitungen, Internetforen und die Telefonzentrale der deutschen Bundesbank
viele Aeusserungen von Buergern, die die Aussagen von Sarazzin fuer richtig
hielten. Also die politischen Eliten hatten sich vom Volk abgekoppelt. Dieses
Buch loeste ein kurioses Sozialphaenomen aus.
In der Bundesrepublik war es lange Zeit ein Tabu, so
offen das Verhalten von einem Teil der Buerger mit Migrationshintergrund zu
kritisieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Deutsche darueber veraergert
waren, dass sich ein Teil der Buerger mit Migrationshintergrund weigert, sich
in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Trotzdem haben deutsche Buerger
geschwiegen, weil sie nicht als fremdenfeindlich eingestuft werden wollten.
Sarazzin hat das offen gesagt, was viele Buerger bisher
nicht gewagt haben, zu aeussern. Er wurde von einem Teil der Bevoelkerung als
?Held mit Zivilcourageg gesehen. Als Sarazzin 2009 seine Thesen im Interview
veroeffentlicht hat, hat selbst ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung geschrieben, dass Sarazzin der Meinungsfreiheit einen Dienst geleistet
hat.
Ich finde es positiv, dass er durch sein Buch viele
Versaeumnisse der deutschen Integrationspolitik in den letzten 40 Jahren
kritisiert und die Diskussion zu diesem Thema ausgeloest hat. Zum Beispiel
wurde der Sprach-und Integrationskurs fuer Migranten, die vorhaben, dauerhaft
in Deutschland zu wohnen, erst im Jahr 2005 eingefuehrt. Solche Masnahmen
haette man viel frueher einfuehren sollen.
Bis auf einige Ausrutscher, die er in einer spaten
Auflage gestrichen hat, wird der Inhalt des Buchs von Wissenschaftlern als
zutreffend bezeichnet. Selbst die SPD-Fuehrung musste die Parteiordnungsverfahren
gegen Sarazzin einstellen.
Als ich vom Erfolg vom Buch von Sarazzin erfuhr,
erinnerte ich mich an die Zustimmung, die Martin Walser nach seiner Rede im
Jahr 1998 bekommen hat. Er hatte die Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit
durch die Medien offen kritisiert.
Der Inhalt der Aussage ist zwar unterschiedlich, aber in
beiden Faellen haben die Autoren das angesprochen, was lange als politisch
unkorrekt galt und verschwiegen wurde. Beide haben dafuer ein Lob von einem
Teil der Bevoelkerung bekommen.
Nach der
Wiedervereinigung spuere ich, dass sich Deutschland darum bemueht, ?ein
normales Landg zu werden.
Ich habe einmal den Inhalt eines gleichen Schulbuchs zur
deutschen Geschichte zwischen 1981 und 1991 verglichen. Das Schulbuch, das nach
der Wende veroeffentlicht wurde, schildert die Vertreibung und die Folgen der
Luftangriffe der Alliierten auf die deutschen Grossstaedte detaillierter als das
Schulbuch, das vor der Wende erschien.
Vor der Wiedervereinigung war es wegen der Ruecksichtnahme
auf die Gefuehle der Nachbarlaender unvorstellbar, dass die Bundesrepublik
Kampftruppen zur Friedensbewahrungsmission der UNO entsendete.
Kurz nachdem der Buergerkrieg in Bosnien-Herzegowina
ausbrach, aeusserte sich der damalige Bundeskanzler Kohl wegen der juengsten
Geschichte dagegen, die Bundeswehrsoldaten dorthin zu schicken. Aber im Jahr 1998
hat sich die Bundesrepublik zum ersten Mal an einem Luftangriff der NATO gegen
Serbien waehrend des Kosovo-Krieges beteiligt. Wer hat sich vor der Wende
vorstellen koennen, dass Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gegen die Aufstaendischen
kaempfen ?
Deutschland hat durch die Niederlage in 1945 die
Souveraenitaet verloren und fast den halben Jahrhundert lang unter dem Joch des
Kalten Krieges gelitten. Deswegen finde ich es verstaendlich, dass die
Deutschen heute ein ?normalesg Land anstreben, nachdem diese Einschraenkungen
beseitigt wurden.
Auf der anderen Seite verfolgen Nachbarlaender die
Reaktionen der deutschen Gesellschaft auf die Meinungen von Autoren wie
Sarazzin und Walser aufmerksam. Mich stimmt schon nachdenklich, dass ein Buch,
dass die Rechtsradikalen ausdruecklich auf ihrer Internetseite loben, zu einem
Bestseller in Deutschland wurde, auch wenn sich der Autor von solchen Stroemungen
distanziert.
Ich hoffe sehr, dass sich die kuenftige Bundesregierung
noch verstaerkt fur die Integration der Auslaender einsetzt. Ich hoffe auch,
dass mehr Buerger mit Migrationshintergrund die Werteinstellung der deutschen
Gesellschaft akzeptieren und zur Wertschoepfung in diesem Land beitragen. Meines
Erachtens sind die Bemuehungen von beiden Seiten aeusserst wichtig.
5 Wohin geht die Europaeische Union ?
In Japan ist das Interesse an der Europaeischen Union
bedauerlicherweise gering. Selbst unter den Journalisten spuere ich den Mangel
an Grundkenntnis zur EU. Der Schwerpunkt von Berichterstattungen ueber Ausland liegt
in den USA und Asien.
Ueber die Schuldenkrise in Europa wird aber in Japan
relativ viel berichtet, weil Japan selbst eine hohe Schuldenquote hat. Dem
japanischen Finanzministerium zufolge betrug letztes Jahr die Schuldenquote,
also das Verhaeltnis von oeffentlichen Schulden zum Bruttoinlandsprodukt, 134%.
Es war hoeher als die Schuldenquote von Italien. Die Schuldenquote von
Deutschland betrug Ende letzten Jahres 83%. In Griechenland war es ungefaehr
143%.
Das japanische
Finanzministerium schaetzt, dass die Schuldenquote am Ende des laufenden
Fiskaljahres auf 138% steigen wird.
Der kumulierte Schuldenberg wird um 4% im Vergleich zu
Vorjahr auf 668 Billionen Yen (6,1 Billionen Euro) steigen. Es ist 16 Mal so
hoch wie die Steuereinnahme im Jahr 2011. Die japanische Regierung hat sich 3
Mal so viel wie die Bundesregierung verschuldet. Wenn wir diese Schulden auf alle
Japaner verteilen, betragen die Schulden pro Kopf ca. 5 Millionen Yen, oder 48.000
Euro.
Einige deutsche Oekonomen hatten schon Ende 90er Jahre vor
den dramatischen Folgen der hohen Schuldenquote Japans gewarnt.
Damals haben japanische Oekonomen und Journalisten diese
Warnung nicht ernst genommen. Sie sagten, dass die hohe Schuldenquote Japans
nicht so problematisch wie fur europaeische Laender sei, weil 95 % der
japanischen Staatsanleihe von den japanischen Investoren, hauptsaechlich von
Banken, gekauft werden. Ausserdem haette Japan ein hohes Sparvermoegen.
Ich hoere in Japan immer noch aehnliche Behauptungen. Aber
immer mehr Japaner fragen sich, wie lange noch die japanische Regierung sich weiter
verschulden kann. Das japanische Volk wurde von der Euro-Krise sensibilisiert.
Als Euro im Jahr 1999 eingefuehrt wurde, aeusserten sich einige
japanische Oekonomen und Journalisten skeptisch ueber die Zukunft der neuen Waehrung.
Eine japanische Wirtschaftszeitung hat geschrieben, dass der Mangel an der
Koordination der Wirtschaftspolitik zu Problemen fuehren konnte.
Mich hat die Gruendung der Europaeischen Waehrungsunion
seit Anfang der 90er Jahre fasziniert, weil solch ein ehrgeiziges Projekt in
Asien unvorstellbar ist. Am meisten hat mich die Frage interessiert: warum sind
die Deutschen bereit, die starke D-Mark aufzugeben? Die D-Mark war fuer viele
Deutsche nicht nur eine Waehrung, sondern ein Symbol des raschen Wiederaufbaus
nach dem Zweiten Weltkrieg und der hohen Wirtschaftsleistung.
Ich hatte damals den Eindruck, dass manche Deutsche der
Bundesbank mehr als Gott vertrauten. Wenn es eine bundesweite Volksabstimmung
gegeben haette, haette die Mehrheit der Deutschen damals die Abschaffung der
D-Mark abgelehnt.
Ich habe gelernt, dass viele Deutsche einen grossen Wert
auf die Waehrungsstabilitaet legen, zum Teil wegen der Erinnerung an die
Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg. Aus diesem Grunde hatten viele Oekonomen
und Industrieunternehmen Bedenken gegen die neue Einheitswaehrung.
Ich habe in meinem zweiten Buch, das ich im Jahr 1993
veroeffentlicht habe, schon darauf hingewiesen, dass der Maastricht-Vertrag keine
konkreten Plaene fuer die politische Union beinhaltete. Eine Waehrungsunion
gelingt nicht, wenn die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedlaender
nicht eng koordiniert wird. Ich fand den Sanktionsmechanismus gegen Defizit-Suender
nicht streng genug. Der Wortlaut des Vertragstexts hatte viele
Interpretationsspielraeume.
Ich war ueberrascht, dass die Euro-Laender keine harte Sanktion
gegen Griechenland verhaengt haben, als diese im Jahr 2004 festgestellt haben,
dass Griechenland 3 Jahre davor mit geschoenten Angaben den Euro-Beitritt
erschwindelt hatte. Der Euro-Kurs zeigte auch keine grose Turbulenz, und die EU
kehrte bald zur normalen Tagesordnung zurueck.
Das Problem Griechenland wurde unter den Teppich gekehrt.
Auch danach lieferte Griechenland falsche Haushaltsdaten an die Europaeische
Kommission unbemerkt weiter. Meines Erachtens war es ein grosser Fehler der Euro-Gruppe,
dass sie damals die Haushaltsdaten aus Griechenland nicht schaerfer
kontrolliert hat. Die jetzige Euro-Krise war schon damals vorprogrammiert.
Ich teile die Sorge von deutschen Oekonomen und
Politikern, dass sich die Waehrungsunion kuenftig zu Lasten von Deutschland in
eine Transfer- oder Haftungsunion umwandeln kann.
Es gibt schon einige Anzeichen dafuer. Die sogenannte ?No
Bail-out Klauselg im Maastricht-Vertrag hatte verboten, dass ein EU-Mitgliedstaat
fur einen anderen Staat finanziell haftet. Ich war entsetzt, als die EU im Mai 2010
das Rettungsprogramm fur Griechenland beschlossen und dadurch die No Bail-out
Klausel praktisch ausser Kraft gesetzt hat. Die Garantie im Maastricht-Vertrag,
die die Deutschen beruhigt hatte, dass sie fur Defizit-Suender nicht haften
muessen, galt ploetzlich nicht mehr.
Es ist natuerlich wichtig, den Euro zu retten. Es stimmt
auch, wenn die Suedeuropaeer sagen, dass Deutschland jedes Jahr einen grosen
Handelsueberschuss erzielt und durch die Einfuehrung vom Euro am meisten
profitiert hat. Aber wie lange noch muessen die Deutschen die Suedlaender
unterstuetzen ? Das Rettungsprogramm fur Griechenland musste dieses Jahr
aufgestockt werden, weil sich die Wirtschaftslage des Landes zunehmend
verschlechtert.
Ausserdem mussten auch Irland und Portugal gerettet
werden. Andere Eurolaender verlangen die Einfuehrung von Euro-Bonds, die die
Zinslast der Deutschen substantiell erhoehen. Die Europaeische Zentralbank hat
die politische Unabhaengigkeit verloren und kauft indirekt grosse Volumen von
Staatsanleihen der Suedlaender. Wenn ich mit den deutschen Burgern zu diesem
Thema spreche, spuere ich die Frustration und Angst fur die Zukunft.
In den 90er Jahren habe ich von den Beamten vom
Finanzministerium in Bonn gehoert, dass Deutschland durch die Einfuehrung des
Euros die Stabilitaetskultur in andere EU-Laender exportieren wollte. Es ist
leider nicht gelungen.
Manche Analysten in England sagen schon, dass die Rettung
der notleidenden Laender nicht ewig fortgesetzt werden kann, und dass das
Euroland in Zukunft auf einen harten Kern reduziert wird. Ich bin immer noch ein
grosser Anhaenger vom Projekt Euro und war am Anfang von der Griechenlandkrise
vor 2 Jahren noch optimistisch. Heute bin ich nicht mehr optimistisch. Ich halte
es fuer unwahrscheinlich, dass alle jetzige 17 Mitgliedslaender in 20 Jahren
noch der Euro-Zone angehoeren.
Ich hoffe, dass die Abspaltung vermieden wird. Aber die
Macht der Finanzmaerkte ist heute viel groesser als die der Regierungen. Ich
bin traurig zu sehen, dass die Regierungschefs zu Getriebenen wurden. Vor dem
enormen Einfluss der Ratingagenturen und institutionellen Investoren haben die
Europaeische Zentralbank und die Regierungen der Euro-Zone nur wenige
Gestaltungsmoeglichkeiten.
Die Rettungspakete und Gipfeltreffen sind keine
Beseitigung der Krankheitswurzel, sondern nur Linderung von Schmerzen. Jeden
Tag klingt das folgende Sprichwort ueberzeugender: ?lieber ein Ende mit
Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.g Europa steht meines Erachtens vor
einigen schmerzhaften Einschnitten. Japan und andere asiatische Laender wuenschen,
dass Europa stabil und gesund bleibt. Ich hoffe sehr, dass es Europa bald endlich
gelingt, diese Krise zu bewaeltigen.
6 Unterschied vom Risikobewusstsein zwischen
Deutschland und Japan
Ein anderes Thema, das mich im Moment sehr beschaeftigt.
Jetzt arbeite ich an meinem zwoelften Buch. Es handelt sich um den grossen
Unterschied vom Risikobewusstsein zwischen Deutschland und Japan. Das Grosserdbeben
und der Atomunfall im Maerz haben mich dazu bewegt, das Buch zu schreiben.
Viele Japaner, insbesondere die Leute, die in der
Energiewirtschaft arbeiten, waren erstaunt, dass die Deutschen innerhalb von 4
Monaten nach Fukushima den Gesetzentwurf im Bundestag und Bundesrat verabschieden
liessen, die alle Atomkraftwerke bis 2022 abschalten soll.
Das Interesse zum Thema Atomausstieg und Ausbau von
erneuerbarer Energie in Deutschland ist sehr gross in Japan. Im Juni habe ich
in Japan sechs Vortraege unter anderen zu diesem Thema gehalten und bei einem
Radiosender anderthalb Stunden lang uber die Energiewende in Deutschland live berichtet.
Viele Japaner wissen nicht, dass das Thema Kernenergie
seit 40 Jahren die Bundesrepublik in zwei Lager gespalten hat, und die
Anti-AKW-Bewegung zu einer grosen Sozialbewegung geworden war. Schon vor
Fukushima hatte ich bemerkt, dass der Anteil von Deutschen, die sich kritisch
gegen Atomenergie aeusserte, viel groesser als in Japan war.
Die Proteste gegen AKW in Japan waren oft auf den
Standort des Reaktors begrenzt und nicht so gut vernetzt wie in Deutschland. In
Japan gibt es immer noch keine oekologische Partei wie die Gruenen, die Sitze
im Parlament hat und eine grosse Rolle bei der Gestaltung des ersten Atomausstiegsgesetzes
im Jahr 2002 unter Regierung Schroeder gespielt hat.
Vor Fukushima war der Grossteil der japanischen Bevoelkerung
bis auf eine kleine Minderheit egal, wie der Strom produziert wird. Die
Deutschen waren zu diesem Thema viel besser als die Japaner informiert und gegenueber
der Atomenergie kritischer und pessimistischer eingestellt.
Die japanische Atomsicherheitskommission hatte zwar
Sicherheitsvorschriften fur Erdbeben aber keine fur Tsunami. Der Stromversorger
TEPCO hatte das Kernkraftwerk Fukushima I so ausgelegt, dass es maximal einem
Tsunami in Hohe von 5,7 Meter standhalten kann. Der tatsaechliche Tsunami vom
11. Maerz war 13 Meter hoch.
Einige Erdbebenforscher und ein Abgeordneter hatten vor
der Gefahr vom Grosserdbeben und Tsunami mit einer Wiederkehrperiode von 1.000
Jahren in dieser Region gewarnt. Aber niemand, inklusiv Atomsicherheitskommission
hat diese Warnung ernst genommen und Massnahmen getroffen.
Wir Japaner waren bezueglich des Restrisikos der
Kernenergie einfach zu optimistisch. Unsere Vorbereitung auf eine
Atomkatastrophe war nicht ausreichend. Die Atomsicherheitskommission war davon
ausgegangen, dass ein Tsunami von diesem Ausmass nicht passieren wird.
Diese Regulierungsbehoerde war jahrzehntelang nicht dem
Umweltministerium unterstellt, sondern ein Teil vom Wirtschaftsministerium, das
die Nutzung der Kernenergie foerderte. Erst naechstes Jahr wird es vom
Wirtschaftsministerium getrennt.
Wir hatten vor Fukushima keinen funkgesteuerten Roboter,
der die Videoaufnahmen von einem radioaktiv hoch kontaminierten Bereich
schicken kann. Wir mussten es von den Amerikanern leihen.
Die Deutschen waren viel pessimistischer, vorsichtiger
und risikobewusster als die Japaner. Die Winzer in Wyhl, einer kleinen Gemeinde
in Baden-Wuerttemberg, hatten schon vor 40 Jahren angefangen, gegen ein
Atomkraftwerk zu protestieren. Sie konnten den Bau des Kraftwerks verhindern.
Dieser Protest hat viele AKW-Gegner im ganzen Land inspiriert.
Seitdem haben die Deutschen heftig ueber den Nutzen und
die Gefahr von Kernenergie diskutiert. Sie hatten schon vor 20 Jahren
angefangen, die regenerative Energie zu foerdern. Wegen dieser langjaehrigen Erfahrungen
und Vorbereitungen konnten die Deutschen nach Fukushima so schnell entscheiden,
bis 2022 die Atomenergie abzuschaffen.
Viele Japaner fanden es interessant, dass die
Bundesregierung nicht nur die Reaktorsicherheitskommission, also die Techniker
beauftragt, den Sicherheitsstandard der
Kernkraftwerke zu uberpruefen, sondern eine Ethikkommission berufen hat.
Diese Kommission besteht nicht aus den technischen
Experten von Atomenergie, sondern hauptsaechlich Soziologen, Philosophen,
Geistlichen usw. Die Bundesregierung hat die Empfehlung der Ethikkommission zum
Atomausstieg implementiert, obwohl die Reaktorsicherheitskommission keinen
Grund sah, die Reaktoren Hals uber Kopf stillzulegen.
Unter den 17 Mitgliedern von der Ethikkommission war
niemand von der Stromwirtschaft. Nur ein Mitglied vertrat die Industrieunternehmen.
In Japan waere es unvorstellbar gewesen, ohne Vertreter der Energiewirtschaft
ein neues Konzept ueber die Zukunft der Energie vorzuschlagen.
Hier sehe ich die klare Position der jetzigen
Bundesregierung, dass es besonders nach Fukushima falsch ist, die Risikoeinschaetzung
zur Atomenergie nur auf die technischen Aspekte zu beschraenken. Der Grund ist,
dass die Folgen von einer Atomkatastrophe geographisch, sozial und zeitlich
nicht zu begrenzen sind.
Die Ethikkommission war zum Schluss gekommen, dass
Fukushima gezeigt hat, dass das Restrisiko von Atomenergie nicht beherrschbar
sei. Deswegen sollte Kernenergie durch andere Energiequellen ersetzt werden,
die weniger Risiken haben.
Ich fuehlte mich betroffen, dass Fukushima die
Entscheidung der Deutschen zum Ausstieg beeinflusst hat. Viele Deutsche inklusiv
Bundeskanzlerin Merkel haben gesagt, dass sie Atomenergie nicht mehr benutzen
wollen, wenn selbst ein Hochtechnologieland wie Japan ein Atomkraftwerk nicht
sicher betreiben kann. Sie hatten es nicht fuer moeglich gehalten, dass ein
Super-GAU von Gefaehrdungsgrad 7 in einem Atomkraftwerk in Japan passieren
kann.
Diese Aussagen lassen viele Japaner nicht kalt.
Ich bedaure es sehr, dass das Vertrauen von vielen Deutschen
in die japanische Technologie verloren gegangen ist. Der Unfall zeigt wieder,
wie begrenzt unsere Faehigkeit fuer Risikoeinschatzung und Vorstellungskraft
sind, wie die Ethikkommission in ihrem Abschlussbericht erwaehnt hat.
Ich bin in Tokio geboren und dort aufgewachsen. Damals
wusste ich nicht, dass die Kernkraftwerke von TEPCO, die die Hauptstadt Tokio
mit Strom belieferten, ausserhalb vom Zustaendigkeitsgebiet von TEPCO waren.
Der Strom von Fukushima hatte die Nacht vom Stadtzentrum von Tokio so hell wie
am Tage gemacht. Dieser Strom war eine der Voraussetzungen fur das rasche
Wirtschaftswachstum Japans nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wir Tokioter haben jahrzehntelang vom Strom aus
Atomkraftwerk Fukushima I profitiert, aber die Einwohner von Fukushima leiden
jetzt unter Folgen von Atomunfall. Viele koennen jahrzehntelang nicht mehr in
ihre Haeuser zurueckkehren. Als ehemaliger Abnehmer von diesem Strom fuehle ich
mich fuer ihr hartes Schicksal zum Teil verantwortlich.
Ich glaube, dass wir Japaner bezueglich Risikoeinschaetzung
und Risikovorsorge noch viel von Ihnen lernen koennen. Wir muessen uns von Hybris
endgueltig verabschieden.
7 Deutschland und Japan. Keine wechselseitige Liebe ?
Am Ende moechte ich Ihnen einige Zahlen zeigen, die die heutige Beziehung
zwischen Deutschland und Japan symbolisieren. Die deutsch-japanische Beziehung
war leider keine wechselseitige Liebe, sondern eine Einbahnstrasse.
Ich hoffe, dass sich unsere Beziehung eines Tages in eine
gegenseitige Liebe umwandelt.
Vielen Dank fuer Ihre Aufmerksamkeit und ich freue mich
auf eine rege Diskussion mit Ihnen.